von Peter Ekl
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26. Januar 2023
Bei den Qigongkursen, wenn sie die Geschichte mit dem „Yin und Yang“ erklärt, stellt Luise öfters die Frage: „Was ist denn jetzt wichtiger, das Einatmen oder das Ausatmen“? Meist, wenn wir eine solche Frage hören, glauben wir, wir müssten und könnten sie beantworten - eines davon muss wichtiger sein, eines muss besser sein als das Andere. So ist die Welt, oder? Eines ist schwächer, eines ist stärker, eines ist mächtiger, eines muss sich unterordnen. Aber genau da ist bei Yin und Yang nicht so, und bei der Betrachtung der Welt aus der Sicht der klassischen chinesischen Kultur. Auch wenn das Eine hell ist - Yang - und das Andere dunkel - Yin - ist das nicht mit einer Wertung belegt, und es heißt nicht, dass eines gut und das Andere schlecht ist. Diese Pole kämpfen nicht gegeneinander, sie ergänzen sich, sie gehen fortwährend ineinander über. Das ist in dem bekannten Yin/Yang-Symbol dargestellt. Das Eine gibt es nicht ohne das Andere. Wenn Luise dieses Thema bespricht, kommt oft diese Übung: „Jetzt atme mal ganz tief ein....!“ und wir alle atmen ein, tief, tief, tief.... und irgendwann, ziemlich bald eigentlich, wird uns die lebensspendende Luft in unseren Lungen zu viel und wir würden sie gar so gerne auch wieder auslassen und ausatmen - und machen es schließlich auch, obwohl die Luise vielleicht noch gar nicht gesagt hat, wie es weitergeht. Einatmen, Luft holen, ist so schön, und erscheint uns als das Wichtigste überhaupt, wenn wir den Atem angehalten haben, weil wir unter Wasser waren oder in dichtem Rauch. Doch wenn wir in die Lage kommen, dass wir nicht ausatmen können, dann ist das plötzlich das Schönste und Wichtigste. Dies eine Seite kann nicht ohne die andere, nichts ist wichtiger als das stete Schwingen zwischen den Polen. Eine Binsenweisheit? Eigentlich schon. Aber schon die alten Chinesen hatten viel Anlass, darüber zu sprechen und zu schreiben, wie auf dieses Gleichgewicht zu achten sei. Inzwischen lebt (fast) die ganze Menschheit, auch in China, in einer Gesellschaft, in der das Yang extrem überbetont ist. Helle Beleuchtung und Lärm durchbricht die Stille und Dunkelheit der Nacht, Schlaflosigkeit ist eine Volkskrankheit, nur wer Leistung bringt, nicht nachlässt, kann sich wertgeschätzt fühlen. Ruhe, Nachgeben, Dunkelheit, Weichheit, Abwarten sind schlecht angesehen. Es ist, habe ich kürzlich jemand sagen hören, als ob die ganze zivilisierte Menschheit immer nur einatmen wollte. Gerade ist Chinesisches Neujahr, der Beginn des Jahrs des „schwarzen Wasserhasen.“ Jetzt versuchen die Sterndeuter, aus den Zeichen der Zeit die Qualität des neuen Jahrs herauszulesen. Das muss man nicht alles glauben. Aber in diesen Äußerungen kam dieses Jahr mehrfach ein Gedanke vor, der sich an das Hasenbild knüpft, und wo es auch um das Gleichgewicht von Yin und Yang geht. Es sei ein Jahr, in dem viele Unternehmungen gut gedeihen. Daraus erwachse aber die Gefahr, dass das Wachstum (=Yang) den Kontakt zur Wurzel (=Yin) verliert. Das kommt zum Beispiel bei jungen Unternehmen vor (was heute Startups heißt), wenn sie so viele Aufträge bekommen, dass sie sie nicht mehr ausführen können. Irgendeine Grundlage (Yin) gerät in einen Mangel - irgendein Material, die Rücklagen, die mitarbeitenden Menschen, die benötigten Räumlichkeiten - etwas, das nicht sofort durch noch mehr Aktivität (Yang) geschaffen werden kann. Damit entsteht eine Erschöpfung, weil das Yang keine Ergänzung im Yin mehr findet. (Jetzt wo ich das schreibe, fällt mir auf, dass wir diese Geschichte auch im Großen mit der Erschließung (Yang) neuer Rohstoffe und Energiequellen (Yin) durchbuchstabieren könnten). Dies, so sagen die Weisen aus dem Morgenland, ist die Gefahr dieses Jahres. Das eigentlich gut Gedeihende „verhungert“ auf dem Wege, weil das Gleichgewicht zwischen Yin und Yang so stark gestört ist. Denn es ist ein Gleichgewicht, das nicht auf Dauer gestört werden kann, ohne mächtige Ausgleichsbewegungen hervorzurufen. Das ist der Burnout nach einer Zeit nicht nachlassender Anstrengung (auch wenn es Anstrengung für die beste Sache der Welt war). Das ist die Schrumpfen nach großem Erfolg, das ist das Rezept, das nicht mehr aufgeht, nach dem es doch so lange so gut geklappt hat. Es muss nicht so weit kommen, sagen die Weisen (und die Luise). Aber es sagt auch die Erfahrung. Wenn in der Zeitung stand, dass jemand Prominenter gestorben war, pflegte Winston Churchill zu sagen: „Der hat bestimmt keinen Mittagsschlaf gemacht!“ In diese Richtung zu schauen, könnte in diesem Jahr recht heilsam sein: bewusst Ruhe geben, obwohl du noch etwas mehr arbeiten könntest. Weniger Pläne dazu, was du noch tun, und mehr dazu, was du lassen könntest, um glücklicher zu sein. Weniger reden, mehr lauschen. Weniger marschieren, mehr tanzen. Weniger denken, mehr staunen. Ein gutes Hasenjahr 2023 wünschen Luise und Peter.